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Die Glazialkosmogonie als naturphilosophisches System (*)



Was wir heute Naturphilosophie nennen, umfaßte noch in der Antike und bis zum Ausgang des 16. Jahrhunderts das gesamte Wissen von der Natur einschließlich der Psychologie.
Erst im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts wurden zunächst die Psychologie, dann auch die Physiologie selbständig.  Den Rest bezeichnete man als spekulative Physik, von der sich eine empirische Physik abtrennte, aus welcher dann die moderne Naturwissenschaft hervorging.  Aus der spekulativen Physik entwickelte sich die Naturphilosophie.

Heute zerfällt die Naturphilosophie in zwei Teile - sie kann erstens eine Metaphysik der Natur sein und zweitens als eine Wissenschaftslehre der Naturwissenschaft, als eine "Philosophie der Naturwissenschaft" auftreten.  In diesem Falle hat sie es mit den Grundsätzen und Grundbegriffen der Naturwissenschaften zu tun.  Naturbegriffe wie die des Atoms, der Energie, des Lebens, der Materie und Grundsätze, wie das Trägheits- und Relativitätsprinzip, das Prinzip von der Erhaltung des Stoffes, spielen hier eine Rolle.  Die Naturphilosophie wird zur angewandten Erkenntnistheorie.

Schon Kant versuchte in seinen "Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft" (1786) die Prinzipien a priori für alle Naturwissenschaft darzustellen und gelangte dabei zu einer dynamischen Naturansicht, nach welcher das Wesen der Erscheinungen nur aus den in Wechselwirkung miteinander stehenden Kräften zu ermitteln sei.  Wenn die Naturphilosophie aber die in den Naturwissenschaften gebrauchten Methoden erörtert und die besonderen Formen - Induktion und Deduktion, Analyse und Synthese - untersucht, so wird sie zur angewandten Logik.  Aber neben dieser Wissenschaftslehre der Naturwissenschaft finden wir auch eine Metaphysik der Natur, welche die letzten Gründe der Entstehung und Zusammensetzung aller Naturerscheinungen, der organischen wie der anorganischen, zum Gegenstande hat und versucht die partikularen Erkenntnisse von Naturvorgängen insofern zu erweitern, als sie zu einer möglichen Gesamtdarstellung alles Wissens von der Natur in ihrer Totalität aufsteigt.  Die Naturphilosophie als Metaphysik der Natur will den letzten Zweck aufzeigen, dem Werden und Entwicklung in der Natur zustreben.  So steht die Naturphilosophie am Anfang und am Ende der Naturwissenschaften, indem sie nämlich einerseits die Voraussetzungen aller Naturerkenntnis und andererseits ihren letzten Zweck herausstellt.

Die Glazialkosmogonie (Welteislehre) untersucht nun nicht die Apriorität unserer Naturerkenntnisse, sondern versucht vielmehr alles Naturgeschehen nach einheitlichen Gesichtspunkten zu "gliedern", um das solchergestalt gewonnene Ergebnis in einer Synthese niederzulegen.  Sie fragt zunächst nach der Entstehung des Weltalls und vermag in der Art dieser Entstehung ein Gesetz zu erkennen, das allem Geschehen zugrunde liegt.  Das Entstehen einbeschließt keinen "Anfang", es ist nur Durchgangspunkt in einem riesigen Kreisprozeß, dem alles sichtbare Sein unterworfen ist.  Dieser Kreisprozeß tritt zutage in der Vorstellung von der Aufeinanderfolge von Sonnensystemen, die aus dem Schoße einer Sternmutter geboren, am Weltende zu einer neuen Sternmutter werden, welche wiederum Baustoff für die aus ihr hervorgehende Sonnenwelt liefert.

Wir haben schon darauf hingewiesen, daß nach Hörbiger hinter dem Wechselspiel alles kosmischen Geschehens ein letzter Grund und Zweck anzunehmen ist und lernten diesen zwecktätigen Weltbaumeister als die platonische Weltseele kennen.  Denn "man fühlt sich inmitten aller Eiswüstenei unseres Planetensystems... neu umweht von erwärmenden Hauche einer Platonischen Weltseele, wenn man so deutlich jenen hehren Pulsschlag des Sonnensystems verspürt, wie ihn die alles meteorologische Geschehen beherrschenden Sonnenfleckenperioden darstellen" (1).  Der wahre Grund der Existenz einer sichtbaren Welt kann nur in einem außerweltlichen Prinzip verankert sein, in einem Gesetz "oder einer Norm", die jenseits des Zusammenhangs der endlichen Dinge und der wirkenden Ursachen liegt.  Der tiefere Grund aber, weshalb die Gottheit unter vielen möglichen Welten diese bestimmte geschaffen hat, kann nur in dem Zweck erblickt werden, welchen sie dabei zu verwirklichen trachtet.  Als dieser Zweck erscheint der Mensch selbst, er wird zum "Ziel" der Schöpfung, zum eigentlichen "Sinn" der Welt.  Denn "wir möchten annehmen dürfen, daß der Mensch figürlich schon im Schoße unseres Muttergestirnes als fertiger Schöpfergedanke schlummerte" (2).  Ähnliche Gedankengänge finden sich schon bei Salomo.  Sagt er doch an einer Stelle, "der Herr hat mich gehabt im Anfang seiner Wege; ehe er etwas schuf, war ich da.  Ich bin eingesetzt von Ewigkeit, von Anfang der der Erde.  Da er die Himmel bereitete, war ich daselbst, da er die Tiefe mit seinem Ziel faßte" (3).  Von der Gottheit aus betrachtet, offenbart sich der Gesamtplan der Schöpfung als eine vorherbestimmte, eine "prästabilisierte Harmonie".

Was die metaphysische Seite der Glazialkosmogonie anbetrifft, so scheint insbesondere der Weg zu Leibniz gegeben.  Überträgt man das Stufenreich der Monaden (wie dies Leibniz aufstellt) aus der metaphysischen Sphäre in die transzendental-psychologische (im Sinne Rickerts), so erhalten wir sehr wohl verschiedene "Deutlichkeitsgrade der Monaden" oder "Sinn"verkörperungen, die in Stufenfolge die Leiter des organischen Lebens von der Urzelle bis zum Menschen aufsteigen, um in ihm als "Sinn" aller Schöpfung zu gipfeln.  Heißt es doch bei Hörbiger: "solcherart glauben wir also im Menschen ein zielstrebig und beschleunigt herausdifferenziertes Kunstprodukt der Gesamtschöpfung, ja deren eigentlichen Haupt- und Endzweck erblicken zu dürfen" (4).
Wird von Leibniz die Gottheit als Zentralmonade hingestellt, so könnten wir vielleicht im Sinne der Glazialkosmogonie die Weltseele als die "erste Monade" bezeichnen.  Hörbiger teilt auch mit Leibniz die dynamische Naturauffassung, die sich darin zeigt, daß die Glazialkosmogonie den Widerstreit zwischen den Grundstoffen - Glut und Eis - letzten Endes in einer Wechselwirkung von Kräften auflöst, die als "sammelnde Schwerkraft" und "trennende Explosivkraft" benannt werden, und deren Zusammenwirken allem kosmischen Werden zugrunde liegt.  Die teleologische Naturansicht, welche Leibniz wie Hörbiger eigen ist, erscheint durch die "prästabilisierte Harmonie" näher bestimmt und erfährt in der "Monadenlehre" eine Vertiefung, insofern sie den Zweckzusammenhang alles organischen Seins verdeutlicht und verbürgt.

Die Vorstellung von der Weltseele, welche mit der Urkraft der Natur zusammenfällt und zum obersten Prinzip der anorganischen und organischen Natur erhoben wird, erinnert aber auch an Schelling.  Nur weil die Natur ihrem Wesen nach lebendig ist, vermag sie organisches Leben hervorzubringen.  Diese Lebendigkeit offenbart sich aber als ein Zusammenspiel von entgegengesetzten Kräften, die zugleich in Trennung und in Einheit miteinander begriffen sind.  Die Weltseele ist es, welche letzten Endes die ganze Natur zu einem Organismus verknüpft.  So wird das Seiende auch bei Hörbiger zum Produkt einer höchsten "Vernunft", welche dann erst gewissermaßen durch selbstgesetzte Schranken die einzelnen Naturdinge hervorbringt.  Den Weltprozeß aber konstruiert Hörbiger in der Anschauung, und zwar wörtlich, indem er das in Begriffen erfaßte "versinnlicht".  Der ganze Werdegang des Weltalls löst sich bei ihm in ein Netzwerk von "ineinandergreifenden" Linien auf.  Die Welt in ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sieht er "graphisch".
Den Sturmschritt allen Werdens fängt er in graphischen Formeln auf.  Er reproduziert die Wirklichkeit in Diagrammen.  Hörbiger ist der eigenartigste Kopf, er "malt" seine Gedanken.  Er konkretisiert Begriffe und denkt in "Bildern".  Wie Schopenhauer erscheint ihm die Welt als ein Produkt der Kontemplation und des "Willens", und er ist bestrebt, das Angeschaute in einem Bilde, in einer graphischen Weltformel festzuhalten.

Teilt auch Hörbiger mit Leibniz die Vorstellung von der Harmonie allen Geschehens, so besteht doch ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden, und zwar darin, daß die "Monaden" Hörbigers als "Sinn"einheiten aufzufassen sind, während sie Leibniz als metaphysische Realitäten anspricht.  Im ersten Falle werden die Monaden in der physischen Existenz verwirklicht, sie bleiben "innerweltlich", im letzteren ist ihr Dasein "außerweltlich" verankert.  Wie das pluralistische System des Leibniz die "Einsamkeit des seelischen Ichs" verabsolutiert, so führt auch die Glazialkosmogonie zu einem Subjektivismus, einem Nebeneinander selbständiger Individuen, indem die Autonomie des Ichs durch die "prästabilisierte Harmonie" im Sinne der angeführten Salomonischen Sprüche eine kräftige Stütze erhält.  Indem nun die Glazialkosmogonie einerseits die Frage nach Zweck und Ziel des Werdens, wie der Entwicklung dahingehend beantwortet, daß sie den Menschen als "Sinn" der Erde hinstellt, der schon von einem Weltwillen gewollt war, ehe diese Welt wurde, und andererseits zu einer Gesamtanschauung alles Naturgeschehens durchstößt, stellt sie sich als ein naturphilosophisches System heraus.

Auf dem Boden des Schopenhauerschen Voluntarismus und in Verknüpfung Leibnizscher und Schellingscher Gedankengänge mit den Ergebnissen der modernen Naturwissenschaft errichtet Hörbiger sein System der Naturphilosophie.  Die Kosmogonie ist ihm Anlaß und Ausgangspunkt seiner begrifflichen Durchdringung des Weltalls, nicht Endzweck.  Er fragt zwar zunächst nach dem Ursprung des Sonnensystems, aber die sich einstellenden neuen Erkenntnisse türmen sich schließlich zu einem großartigen Gedankengebäude, das mehr als nur Einzelerkenntnisse beherbergt.  Auf der Suche nach ein paar Richtigkeiten begriffen, entdeckt er unvermittelt die Wahrheit.  Bei dem Versuche, die Ursachen einzelwissenschaftlicher Wirrnis zu klären, entdeckt er "Gesetze", denen alles sichtbare Sein unterworfen ist.  Die Glazialkosmogonie ist mehr als nur eine Kosmogonie, sie ist letzten Endes eine Metaphysik der Natur, insofern sie nämlich alles Geschehen auf feste "Prinzipien" zurückführt, welcher sich ein "Weltwille" zur Verwirklichung vorbestimmter Zwecke bedient.  In der Wechselwirkung alles Wirklichen offenbart sich für Hörbiger ein "Sinn", den er auszusprechen sich nicht scheut.
So wird die Glazialkosmogonie zu einem Baume naturphilosophischer Erkenntnisse, deren Wurzeln im Erdreich exakter Forschung verankert erscheinen, während die Äste in die Region reiner "Willensmetaphysik" emporstreben.  Sie ist eine Synthese nicht nur der Natur, sondern auch der Geisteswissenschaften auf dem Boden einer "Kosmogonie", die sich als eine Metaphysik der Natur herausstellte.

Dr. G. L. Giehm


(Aufsatzquelle: Monatsheft "Schlüssel zum Weltgeschehen, S. 286-290, Heft 9, Jahrg. 1928, R. Voigtländers Verlag-Leipzig)




Anmerkungen:

(*) Aus dem in R. Voigtländers Verlag erschienenen Buche unseres Mitarbeiters: "Welterkenntnis und Weltenbau" (Philosophisches zur Glazialkosmogonie).  Unabänderlich läuft das Bestreben der suchenden und fragenden Menschheit, im Rahmen einer Kosmogonie ein den Forderungen des bestehenden Zeitalters entsprechendes Weltbild zu gewinnen.  Wenn gegenwärtig die Hörbigersche Welteislehre oder Glazialkosmogonie dazu berufen ist, der Menschheit ein durchaus neuartiges Weltbild einzuräumen, so wird ein Vergleich mit den bisherigen Kosmogonien in der Geschichte der Menschheit am deutlichsten den erheblichen Fortschritt aufzeigen, der unserer Gesamtkultur durch die Welteislehre beschieden ist.  Diesen Vergleichsweg hat der Verfasser zunächst beschritten, denn nach den einleitenden Kapiteln über das Ringen um ein neues Weltverstehen, über Welterklären und Weltverstehen führt er die Kosmogonien in Sagen und Mythen, in der Antike, im Mittelalter, der Renaissance und der Neuzeit auf.  Gestützt auf überaus reiches Quellenmaterial (im Anhang des Buches aufgeführt), wird ein jeweils umfassender Stoff in meisterhafter Kürze auf wenige Seiten gebannt.  Darüber hinaus beleuchtet der Verfasser die Glazialkosmogonie in ihren Beziehungen zur Philosophie, den Natur- und Geisteswissenschaften, der Religion und der Kunst.  Indem er schließlich die Glazialkosmogonie als Synthese zwischen Antike und Neuzeit und die Wertung einer klassischen und nordeuropäischen Weltanschauung damit verknüpft, versucht er abschließend die Glazialkosmogonie als naturphilosophisches System zu kennzeichnen.  Weit über den Rahmen derjenigen hinaus, die die Welteislehre bereits kennen, wird das klar und flüssig geschriebene Werk dieses Philosophen aus der Schule Rickerts jedermann fesseln.  (Anmerkung der Schriftleitung des "Schlüssels zum Weltgeschehen".)

(1) "Glazialkosmogonie", S. 523.

(2) "Glazialkosmogonie", S. 523.

(3) Sprüche Salomos 8, 23 f.

(4) "Glazialkosmogonie", S. 525.