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Kälterekorde des Lebens |
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Immer
taucht eine wesentlich großartige Frage bei der Wertung des
irdischen Lebensganzen auf. Warum gibt es Lebewesen, die
tatsächlich Kältegrade ertragen, wie sie üblicherweise
dem Erdstern überhaupt nicht zu eigen sind?
Wir wissen ja zu genau, was
allein schon geschehen würde, wenn die Durchschnittstemperatur
unserer mittleren Breiten nur um wenige Grade sinkt. Eine Eiszeit
mit all ihren erschwerten Lebensbedingungen ist die Folge eines solch
minderen Temperatursturzes. Unabänderlich sinken Tausende von
Tier- und Pflanzengeschlechtern dahin. Und ein Großteil,
der sich noch einigermaßen vorteilhaft vor dem kühlen Hauch
bewahren kann oder zu retten vermag, ist trotz allem keinem
gnädigen Schicksal verfallen. Dann wissen wir zur
Genüge, daß im allgemeinen die weitaus meisten Lebewesen an
einen verhältnismäßig engen Temperaturspielraum
gebunden sind, um überhaupt wachstums- und erhaltungsfähig
bleiben zu können. Wir sprechen zum Beispiel von einem
Bestmaß pflanzlichen Wachstums, das etwa zwischen 20 bis 35
Wärmegraden liegt.
Gewiß gibt es Pflanzen und Tiere genug, die nicht in diesem glücklichen Paradieszustand schwelgen. Ihrem ganzen Bau und ihrer Lebensweise nach sind sie bald dem täglichen harten Temperaturwechsel der Wüste, bald dem hohen Norden eingestimmt. Pflanzen und Tiere unserer Breiten begegnen durch Blattabwurf, Winterschlaf und dgl. mehr der Kältewelle des Winters. Auch Warmblütigkeit oder wechselwarmer Körperkreislauf, Puppenzustand und ähnliche Dinge mehr sind notwendige Errungenschaften zur gesicherten Begegnung mit bestimmten Klimaschwankungen. Mit anderen Worten: das Lebensganze ist in all seinem Formenreichtum den wechselvollen Bedingungen der Umwelt zweckentsprechend eingestimmt. Das zweifelsohne aus Jahrmillionenfernen heraufgedämmerte Leben hat bei all seinen Eroberungszügen über die gesamte Erdoberfläche hin sich allmählich überall in einen bestmöglichen Ausgleich mit den mannigfachen Faktoren der Umwelt gesetzt. Das alles ging sicherlich nicht ohne gelegentlich recht harte Schicksalsschläge ab. Aber auch einer vorübergehenden Eiszeit kann das Lebensganze dennoch tragen. Das Leben hat sich mit den üblichen, auch den extremsten Temperaturverhältnissen der Erdoberfläche abgefunden - (näheres darüber siehe bei Behm - Planetentod und Lebenswende). Das alles klingt ziemlich
selbstverständlich. Doch würde die Erde plötzlich
einen großzügig sie begegnenden Klimasturz von etwa hundert Grad Kälte
ausgesetzt sein, das allgewaltige Massensterben ungezählter
Lebewesen könnte kein Dichter grauenhaft genug schildern.
Seit es auf Erden ein einigermaßen schon entfaltungsbegabtes
Leben gibt, und dies muß in alten Tagen schon gewesen sein, ist
unser Planet ganz sicher niemals von einem solch gewaltigen Klimasturz
heimgesucht worden. Und doch gibt es wunderbarerweise heute noch
gewisse Lebewesen, die selbst dieser hundertgradigen Kältewelle
zunächst widerstehen würden.
Schon ältere Versuche
haben gezeigt, daß
Milzbrandsporen wochenlang der Temperatur flüssiger Luft
bei minus 192° Celsius trotzen. Auch Temperaturen mit
flüssigem Wasserstoff bei minus 252° Celsius töteten sie
nicht. Es handelt sich hier um äußerst
ursprüngliche und für unsere Begriffe niederst organisierte
Lebewesen. Es leuchtet ein, daß schon erheblich höher
organisierte Lebewesen vermutlich weniger glücklich solche
Kältegrade ertragen dürften. Aber auch hier hat das
Experiment wider Erwarten verblüffende Erfolge gezeitigt. Im
Bad von flüssiger Luft hielten gewöhnliche
Moose mitsamt den ihren anhängenden Fadenwürmern, Räder-
und Bärtierchen über fünf Tage hindurch
aus. Nach dieser ungewöhnlich hohen, nahezu 200°
betragenden Kältedusche lebten die Tiere bei entsprechender
Anfeuchtung unbeschadet wie vordem weiter. Mag auch z. B. das
knapp einen Millimeter große Bärtierchen als niederst
organisiertes aller luftatmenden Gliederfüßler gelten, so
bleibt dieser Rekord doch erstaunlich. Übrigens haben solche
Tierchen schon seit Spallanzanis Zeiten einige Berühmtheit
erlangt, sofern sie nach vollständiger Austrocknung bei
Wasserzusatz wieder auflebten.
Doch der Kälterekord wurde nochmals zweifach überboten. Stundenlang wurde dem Bade flüssigen Wasserstoffs widerstanden. Und seit vor knapp zwanzig Jahren (1908) die Verflüssigung des Heliums gelungen, hat man ganz neuerdings auch flüssiges Helium für lebenskundliche Versuche benutzt. Fast sieben Stunden lang blieben unsere Lebewesen (nachdem sie schon zuvor ein zu dem Versuch benötigtes Hochvakuum einen Tag lang aushalten mußten) der Kälte von nahezu minus 272° Celsius ausgesetzt. Man bedenke, daß solch ein Kaltbad fast den absoluten Nullpunkt streift, der bekanntlich um 273°, tiefer als der Eispunkt liegt. Offenbar ist während der Dauer eines solchen Bades jede Lebenstätigkeit ausgeschaltet. Doch der Zustand gänzlicher Starre ist nicht dem Tode gleichzusetzen, denn etwa eine halbe Stunde nach dem Bade setzen unsere Bärtierchen wieder ihre gewohnte Lebensweise fort. Etwas früher waren bereits die Rädertierchen wieder lebhaft geworden. Solche Rädertierchen
stellen das ebenso reizvollste wie winzigste Vielzellervölkchen
unserer heimischen Kleinlebewelt dar. Im Kleinseher (Mikroskop)
fällt allenthalben das merkwürdige Verhalten des geringelten
Hinterendes am glashellen Körper auf, das wie Glieder eines
Fernrohrs verschiebbar erscheint. Das genauere Studium eines
Tierchens läßt einen immerhin schon recht verwickelten
Körperbau erkennen. Im feuchten Moos, im Rückstand von
Dachrinnen, verharren Rädertierchen meist träge
zusammengezogen, um erst bei Zusatz von Wasser wieder
bewegungsfähiger zu werden. Und schließlich glauben
manche Forscher bei einem rädertiergearteten Urtyp den Schleier
des Entwicklungsganges genug gelüftet zu sehen. Es will
ihnen scheinen, daß alles im Sinne höherer Entwicklung
fortgeschrittene Leben, der ganze Aufwand der Seesterne und Seelilien,
Muscheln, Schnecken und Tintenfische, der höheren Würmer und
Gliederfüßler, Insekten und in letzter Folge auch der
Wirbeltiere, einmal im Urrädertier hauptsächlich steckte.
Unser Fadenwürmchen braucht schon etwa eine Stunde, um sich vom Heliumbade zu erholen. Der Name Fadenwurm mag manchem wenig schmackhaft dünken, denn die artenreiche Sippschaft, die sich hinter diesem Namen verbirgt, ist allenthalben wenig beneidenswert bekannt. Vom Millimeter bis zum Meter aufwärts schwanken die Wurmgrößen und jeder Mensch macht während seines Lebens ergiebig Bekanntschaft mit Vertretern dieser Ordnung der Rundwurmklasse. Aber unser Würmchen, das so sieghaft der Heliumkälte trotzte, ist als freilebendes Tierchen weit harmloser. Es hat durch diese Rekordleistung zum mindesten auch wieder seine Stammesvettern vor allzuharter Verachtung und Abscheu gerettet. Den Moosen selbst schließlich war das Heliumbad bis auf Verlust ihrer blattgrünhaltigen Zellen noch einigermaßen gut bekommen. Alsbald nach dem Einpflanzen sproßten wieder grüne Triebe hervor. Es muß betont werden, daß unsere Versuchswesen sämtlich im lufttrockenen Zustande den erstaunlich tiefen Kältegraden ausgesetzt waren. Man kann auch die Versuchswesen vor der Kälteeinwirkung, wie dies P. Gilbert Rahm getan hat, anfeuchten, sie zunächst in Wasser einfrieren lassen und dann dem flüssigen Wasserstoff etwa aussetzen. Es zeigt sich, daß bei langsamem Einfrieren mit nachfolgendem Bad in flüssigem Wasserstoff fast alle Versuchswesen nach dem Auftauen wieder auflebten, bei plötzlichem Einfrieren dagegen nur Rädertiere und Eier von Bärtierchen lebensfähig bleiben. Nasse Moose waren wiederum schon nach einem Bad in flüssiger Luft nicht mehr zum Auskeimen zu bringen. Warum ertragen nun Lebewesen
gar noch Kältegrade, die normalerweise überhaupt nicht auf
Erden bestehen?
Die Forschung hat schon recht bezeichnende Antworten auf diese Frage gegeben. Das Vermögen solche hohen Kältegrade zu ertragen, deutet geradezu auf eine Anpassung an den ebenfalls recht kalten Weltraum hin. Bakteriensporen könnten sehr wohl das gesamte größere All durchkreuzen und wie einstens, vielleicht auch heute noch nach ausgedehnter Weltraumwanderfahrt (vom Strahlungsdruck getrieben) gelegentlich die Erdoberfläche erreichen. Das irdische Leben, dessen gesamter höherer Formenreichtum sowieso im Spaltpilz irgendwie zu ankern scheint, könnte somit kosmischen Ursprungs sein. Bei der Kleinheit von etwa 16 hunderttausendstel Millimeter würde eine Lebensspore von einem die Schwerkraft überbietenden Strahlungsdruck sehr wohl von Stern zu Stern getrieben werden können. Ob diese Vermutung zu Recht besteht, wissen wir nicht. Für Räder- und Bärtierchen etwa schaltet dieser Ausblick von vornherein aus. Es könnte hier allenfalls eine alte Weltraumanpassung, erblich festgehalten, nachklingen. Die ältere Vorstellung von
Lebensübermittlung durch Meteore glaubt heute niemand ernstlich
mehr. Im Sinne der Welteislehre
dagegen, die heute so überraschend gewaltig zu umwälzend
neuen Vorstellungen drängt, wäre in anderer Hinsicht eine
denkbar mögliche Vorstellung über eine tatsächlich
außerirdische Herkunft des Lebens zu gewinnen. Der
Welteislehre zufolge sind die echten Sternschnuppen Eiskörper, die
reichlich unsere Erde treffen. Solche Eiskörper könnten
kosmisches Protoplasma (Bildungsstoff des Lebens) sehr wohl
eingeschlossen tragen. Zur Erde gelangt, würde darin der zum
Leben befähigte Einschluß sich entfalten können.
Die volkstümliche Auffassung von sogenannter
Sternschnuppengallerte oder vom Speichel der Sterne (wie der Indianer
sagt), würde hier gewissermaßen anspielen.
Es würde bei diesem Ausblick am ehesten verständlich werden, warum es heute tatsächlich noch in bezug auf die Temperaturanpassung kosmisch geartete Lebewesen gibt. Hans W. Behm (Biologe) (Aufsatzquelle: Monatsheft "Der Schlüssel zum Weltgeschehen", S. 299-302, Heft 9, Jahrg. 1928, R. Voigtländers Verlag-Leipzig) |
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