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Warum
ist Heiligabend heute
anders? |
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Heiligabend Es war eine andere Welt, das
Zimmer, heute, die gute Stube, den ganzen
Tag.
Heiligabend. Das Zimmer war verzaubert. Verboten für
mich, für das artige Kind. Nur die Oma, der Opa und die
Mutter durften hinein. Die Mutter betrat es nicht,
meinetwegen. Ich durfte ja nicht, denn jeden Moment konnte der
Weihnachtsmann kommen. Der Weihnachtsmann und ich, wir durften
einander nicht sehen. Warum wußte ich nicht, denn ich war
ja ein braves Kind und musste die Rute nicht fürchten. Der
Weihnachtsmann kam in die Stube wegen der Geschenke, die er
brachte. Ich schenkte nichts. Das unterschied uns.
Ich freute mich auf die Geschenke vom Weihnachtsmann, nicht auf
ihn. Auf ihn freute ich mich schon im Sommer, aber nicht am
heiligen Abend. Ich durfte ihn ja doch nicht sehen.
Ich wusste, der Weihnachtsmann
beschenkte alle Kinder auf der
ganzen Welt. Dass sein Sack viel zu klein war, alle Kinder
auf der Welt daraus zu beschenken, zumal er ja auch Kinder in diesen
Sack hineinsteckte, wenn sie nicht artig gewesen waren, war mir
eigentlich nie in den Sinn gekommen. Man konnte mir viel
erzählen..... ich war gehorsam und gutgläubig.
Der Opa war ständig im
Zimmer, die Oma manchmal, die Mutter nie
und der Vater? Der Vater war im Krieg und niemand wußte wo
er war - der Vater - der Krieg schon, der war fast überall.
Der war auf der ganzen Welt, deswegen hieß er Weltkrieg.
Das leuchtete mir schon als fünfjähriges Kind ein.
Weshalb der Krieg aber nicht in Amerika war, die Amerikaner aber bei
uns waren, das leuchtete mir nicht ein. "Wenn du mal groß
bist", hatte mir die Mutter auf meine Frage geantwortet. Nach
mehreren Versuchen mochte ich nicht mehr fragen. Ich hatte
aufgegeben. Streng genommen leuchtet es mir ja auch heute, nach
sechzig Jahren, noch nicht ein, warum die Amerikaner überall in
der Welt kämpfen, wo sie gar nicht hingehören.
Es war eine andere Welt, das
Zimmer, heute. Heiligabend.
Die Mutter wartete mit mir im Zimmer von Onkel Brandt. Der war
unser Untermieter. Onkel Brandt war nicht da, er war bei seinen
Eltern, weil Weihnachten war. Wir durften hier in seinem Zimmer
warten, bis der
Weihnachtsmann wieder weg war. Mein Kinderherz schlug mir wild
bis zum Hals heraus, meine zarten Nerven wollten zerreißen und
meine Hände und der Kopf brannten heiß.
"Wann geht denn der
Weihnachtsmann endlich, Mutti?" - "Psst", sagte die
Mutter ganz leise, damit uns der Weihnachtsmann nicht hören
konnte, "ich glaube, er ist noch gar nicht da." - "Aber was rumpelt
denn dann so laut drüben im Zimmer?" - "Das ist sicher der
Nikolaus und Knecht Ruprecht, sie beide hat der Weihnachtsmann
vorausgeschickt." Die Mutter lächelte. "Aber was
machen die denn dort so laut?" - "Sie bauen sicher die Geschenke
für dich auf", lächelte Mutter noch immer. - "Bekomme ich
denn viel?" - "Das weiß ich nicht", sagte die Mutter, "ich bin
doch auch nicht im Zimmer und kann es nicht sehen." Das war lieb
von ihr. Mutter hat mich nicht allein gelassen und darauf
verzichtet, den Weihnachtsmann zu sehen, weil ich ihn auch nicht sehen
durfte. So, wie er mich nicht. So lieb war Mutter.
Sie hatte mich belogen - damals. Aber das wußte ich nicht -
damals.
Es war eine andere Welt, das
Zimmer, heute. Heiligabend.
Plötzlich klopfte es laut an der Tür. Kam heute doch
der Weihnachtsmann? Nein. Es war der Opa. "Der
Weihnachtsmann ist gerade weg", sagte er, "Ihr könnt jetzt
reinkommen."
Eine schöne Bescherung! Es war ein anderes Zimmer, heute, die gute Stube. Der Baum, das flackernde Licht der brennenden Kerzen, der Glanz und die weihnachtliche Musik im Volksempfänger. Das Zimmer, es war das Himmelreich, heute, die gute Stube. Heiligabend. Der Geruch nach Tannenwald, die bunten Kugeln im Baum, der Lichterglanz. Das ganze Zimmer war nur strahlender Baum und --- die Geschenke darunter. Das Militärauto mit vier Soldaten darin und einer Kanone dahinter, daneben ein herrlicher Panzer mit einem Panzersoldaten, der oben aus der Luke sah. Äpfel und Nüsse, Tannen- und Kerzendurft. Weiter hinten acht Infanteristen mit Gewehr und ein General mit rotem Revers ohne Gewehr. Vorn links die Straßenbahn mit den vielen kleinen Püppchen --- alles viel zu groß für die Soldaten. "Mehr habe ich nicht bekommen", flüsterte die Oma. - "Gut, daß uns Onkel Brandt noch das Auto gebracht hat", sagte der Opa leise. "Ich glaube, die Straßenbahn gefällt ihm am besten", sagte die Mutter. Aber das stimmte nicht, ich liebte die Helden im Auto mit der Kanone, weil Vater ja auch ein Held war. Am liebsten hätte ich vom Weihnachtsmann ein Sanitätsauto gehabt für die verwundeten Helden. Jeder Soldat war ein Held. Ich wollte auch ein Held sein und zu den Soldaten. Aber das ging ja nicht, weil ich viel zu klein war, noch. "Wenn du groß bist", sagte Mutter, "kannst du auch zu den Soldaten." - "Wenn er groß ist, ist der Krieg vorbei", sagte der Opa. "Hoffentlich", sagte die Oma und Mutter nickte. "Nein", rief ich, "das soll er nicht", und begann zu weinen, weil ich dann vielleicht kein Held mehr werden konnte. Mutter tröstete mich: "Sieh mal die schönen Spielsachen". - "Essen", rief die Oma. Der Tisch war festlich gedeckt. Und es roch nach Bratäpfeln. XXX
Es war eine andere Welt das
Zimmer, heute, die gute Stube.
Heiligabend.
Nein!........ Es war gar nicht Heiligabend - es war ein Jahr
später, aber ein paar Tage vor Heiligabend. Vater war auf
Urlaub aus dem Krieg. Heiligabend war erst in vier Tagen.
Aber da mußte Vater schon wieder an der Front sein.
Es war eine andere Welt, das
Zimmer, heute, die gute Stube, vier Tage
vor Heiligabend. Der Weihnachtsmann kam zu uns ganz allein.
Ich
durfte ihn trotzdem nicht sehen. Die Kinder in aller Welt
warteten noch nicht auf ihn, heute, ein paar Tage vor
Heiligabend. Aber das wußte ich nicht.
Mutter, Vater und ich warteten
heute im Zimmer von Onkel Brandt.
Alle jungen Männer waren Soldat, nur ich war noch immer zu klein
für die Soldaten. Onkel Brandt war auch kein Soldat.
Warum wußte ich nicht. Er war bei seinen Eltern, obwohl
noch nicht Weihnachten war.
Das Zimmer, der Baum, der Glanz
der Kerzen, aber noch keine
Weihnachtslieder im Volksempfänger. Der Geruch nach Tannen
und --- da waren die Weihnachtsgeschenke neben dem Baum. Eine
alte
Ritterburg, ein Kaspertheater und eine Stand-Schiefertafel. Auf
der Ritterburg, die ein Nachbar gestiftet hatte, standen alle meine
Soldaten und der General ohne Gewehr mit rotem Revers. Es war
noch ein Hauptmann dazugekommen mit einem langen Säbel, aber auch
ohne Gewehr. Ich blieb heute bei meinen neuen
Freunden, dem Kaspar und dem Räuber. Den ganzen
Heiligabend. Ich verkroch mich hinter den Kulissen meines
Theaters und
ließ alle Puppen hintereinander über den Rand der Bühne
sehen. Vater malte ein Bild auf die Standtafel. Fast den
ganzen Heiligabend. Eine afrikanische gelbe Negerhütte und
zwei große grüne Palmen links und rechts. Vater konnte
nicht malen, aber das Bild war trotzdem hübsch.
Vater ging am nächsten Tag
an die Front zurück. Er tat
es ungern. Wir waren traurig und weinten. Vater glich beim
Abschied den Soldaten auf meiner neuen alten Burg. Nicht dem
General. Er hatte auch ein Gewehr. Als er weg war, der
Vater, blieben nur die Negerhütte und die zwei Palmen von ihm auf
der Tafel zurück. Dann kam Weihnachten für die anderen
Kinder, die ich auslachte, weil sie Heiligabend verpasst hatten und
nun alle lange auf den Weihnachtsmann warten mussten.
Anfang Januar kam der Feind mit
seinen Bomben und tötete viele der
kleinen Kinder, die der Weihnachtsmann nicht in den Sack gesteckt
hatte, weil sie alle so brav und artig gewesen waren. Viele
Mütter, Omas und Opas tötete er dazu.
Die gute Stube, der Baum, meine
schönen Spielsachen und das Bild
auf
der Schiefertafel, das ich nicht gelöscht hatte, weil Vater ja in
den Krieg gehen mußte, --- alles war weg. Der Feind hatte
alles zerstört. Auch meinen kleinen Freund Lothar, mit dem
ich
gestern noch unter dem Weihnachtsbaum gespielt hatte. Er lebte
heute nicht mehr. Ein Bombensplitter hatte ihn getötet,
als er seine kleine Schwester retten wollte, die versehentlich auf die
Straße und nicht in den Luftschutzkeller gelaufen war, weil die
Sirenen wieder so laut zu heulen begonnen hatten. Der
kleine Lothar wollte auch ein Held sein und zu den Soldaten. Wir
hatten täglich draußen auf der Straße gespielt.
Er hatte stramm
gestanden, seine Hände an die Hosennaht gepresst, seine Hacken
zusammen genommen und zu mir "zu Befehl, Herr Major" gesagt, weil ich
zwei
Monate älter war. Ich hatte deshalb zu ihm "rühren,
Herr
Hauptmann" gesagt, und auch deshalb, weil wir uns nicht mit kleinen
Gefreiten abgaben.
Natürlich nicht. Nun war der kleine Junge mit seinen
fünf Jahren heldenhaft gefallen, vom Feind kaltblütig
ermordet, ohne bei den Soldaten gewesen zu sein.
Nicht einmal mehr das
große Wohnhaus Nr. 11 mit dem verzauberten
Weihnachtszimmer, der guten Stube, gab es mehr. Das Haus mit dem
Wartezimmer von
Onkel Brandt. Es gab nur noch Trümmer, Schutt und
Asche. Es roch nicht mehr nach Tannen und Bratäpfeln.
Es roch nach Pulverrauch und verbranntem Fleisch.
Menschenfleisch. Wir hatten überlebt, aber waren
obdachlos. Der
Feind hatte uns alles genommen, zerstört und vernichtet.
Rücksichtslos..........
XXX
Es war eine andere Welt, ein
anderes Zimmer, ein
anderer Ort, heute. Heiligabend. Es war auf einem kleinen
abgelegenen Dorf, auf dem
wir später Unterschlupf gefunden hatten. Die Oma, der Opa,
die Mutter
und ich. Vater war nicht wiedergekommen aus dem Krieg.
Jahre waren vergangen. Groß war ich längst, aber kein
Held geworden. Das hatte ich nicht mehr geschafft.
Der Krieg war viel früher
vorbei gewesen als ich damals
befürchtet hatte. Er war schon entschieden, lange bevor die
Bomben der fliegenden Killer die vielen Mütter und kleinen artigen
Kinder getötet hatten. Der Mord wäre nicht nötig
gewesen.
Der Feind hatte uns besiegt und
erzählt, er habe uns
befreit. Ich war gutgläubig. Man konnte mir ja viel
erzählen. Aber der Feind als Sieger, der täglich kleine
Kinder und
deren Mütter heimtückisch und feige getötet, der
tausendfach Bomben auf hilflose Menschen geworfen und ihnen den
qualvollen Tod und größtes Leid gebracht hatte?
Ausgerechnet dieser Feind sollte jetzt die Wahrheit sagen und unser
Befreier sein? Ha. Das
konnte mir niemand erzählen. Sogar Mutter hatte ja gelogen
und sie war immer nur lieb. Der Feind also hatte uns besiegt und
befreit. Richtig - von allem, was uns lieb und teuer gewesen
war...... auch von meinem kleinen Freund Lothar. Genau diesem
Feind sollte ich nun plötzlich vertrauen! Sollte ihm
glauben! Glauben? Warum? Glaube ich denn noch immer
an den Weihnachtsmann?.........
XXX
Es ist ein andere Welt, ein
anderes Zimmer, die gute Stube, eine andere
Stadt, heute. Heiligabend. Unser Sohn
mochte plötzlich keinen Weihnachtsbaum mehr. "Aus diesem
Alter bin ich längst raus" sagt er selbstsicher. Also keinen
Glanz und Flitter, keinen Geruch nach Tanne und Bratapfel. Keine
Sentimentalitäten!
Heiligabend, ein Tag wie jeder andere......? Wenn ich heute, Heiligabend,
unseren Baum schmücke, sehne ich
mich nach der Kindheit, nach dem Zimmer von Onkel Brandt. Nach
dem Opa, der mich in die verzauberte Stube ruft, nachdem der
Weihnachtsmann gegangen ist. Nach der Oma mit ihrem guten Essen
und der Mutter mit ihrer Liebe und Geduld. Es gibt sie alle nicht
mehr. Ich finde ihn nicht mehr, diesen Heiligabend, obwohl es
genau so nach Äpfeln und Nüssen duftet und der Kerzenglanz
den Baum bald strahlend erhellen wird, heute. Heiligabend.
Wenn ich heute, Heiligabend,
unseren Baum allein schmücke, jede
Kugel liebevoll in die Tannenzweige hänge, ist manchmal unser Sohn
bei uns. Nicht, weil Heiligabend ist, sondern weil ich ihn
gebeten hatte, rasch noch den Rechner (Computer) zu reparieren.
Wenn er
wieder nach Hause geht, lange bevor die Kerzen brennen, spüre ich
deutlich sein Mitleid: "Papa..... wie sentimental........ wie
infantil." Wenn er gegangen
ist weiß ich, er hat den wunderschönen Weihnachtsbaum nicht
einmal angesehen.
Es war eine andere Welt, das Zimmer, damals, die gute Stube. Heiligabend. XXX
Heute kann jeder den
Weihnachtsmann sehen. Er kommt nicht mehr
heimlich, er ist überall. In jeder Straße. Da
sind sie, die Studenten oder Arbeitslosen dutzendweise, hundertfach in
roten Mänteln, Kaputzen und langen weißen Bärten, nicht
nur Heiligabend. Selbst an vielen Häusern hängen heute
die Weihnachtsmänner weithin sichtbar an den Dachrinnen und machen
verzweifelte Versuche, irgendwo hinzuklettern. Rauf oder
runter. Man weiß es nicht genau. Geschenke bringt der
Weihnachtsmann nicht mehr. Er animiert heute zum Kauf der
Weihnachtsgeschenke in den Kaufhäusern und
Supermärkten. Nicht jeder kann sie kaufen, nur, wer noch
etwas Geld übrig hat. Man muß sie rasch kaufen, die
Weihnachtsgeschenke, schon im Sommer, weil sie rasch teurer werden und
möglicherweise bald gar nicht mehr bezahlbar sind.
Wir sind befreit! - Von der
romantischen weihnachtlichen Stille, vom
guten alten Weihnachtsmann - im braungrünen Mantel - auf seinem
Schlitten und vom weißen Schnee und den leise rieselnden
großen Flocken, die zu Weihnachten heute nur
noch selten fällt, um die weihnachtlichen Wälder, Wiesen und
Straßen in
Zuckerguß zu verwandeln. Stille Nacht, heilige Nacht.
Stille Nacht?
Es war eine andere Welt, das Zimmer, damals, die gute Stube. Heiligabend. Es ist eine andere Welt, das Zimmer, heute, die gute Stube. Heiligabend........ A.Lachmann |
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